Das Wort zum Montag

Ein sehr interessantes Interview mit Norbert Blüm. Mein Lieblingsspruch daraus: Das erinnert mich an das Märchen vom Fischer und seiner Frau Ilsebill - je mehr se hat, je mehr se will. Bei denen sind offenbar alle Sicherungen durchgebrannt. Die meinen, jetzt wird der Sozialstaat versteigert. Erst Geisler, jetzt Blüm. Bei alten Unionspolitikern scheint so langsam der Verstand durchzukommen. Leider erst sehr spät - denn zu ihrer aktiven Zeit in der Regierung haben sie sich nicht gegen die neoliberalen Ideen gestellt und haben letzten Endes damit geholfen, das die neoliberalen Ideen unter anderem in der Union einen festen Platz kriegen (ich denk da nur an sowas wie den Märzhasen).

Die SPD mag sich noch rausreden, das die Übernahme von neoliberalen Ideen notwendig sei, im politischen Feld zu bestehen (was ich persönlich allerdings für ausgemachten Schwachsinn halte). Aber welche Ausrede hat die Union?

Die FDP braucht man nicht nach einer Ausrede zu fragen, die beerdigen ihre politischen Ideen komplett unter dem neoliberalen Misthaufen ...

Bei Der Rollberg fand ich den den Originalartikel.

Noch ein guter Blüm Artikel April 7, 2005, 2:50 p.m.

Norbert Blüm: Deutschland darf kein Fürsorge-Staat werden

Der Sozialstaat ist ein Kind der Neuzeit. Er trat die Nachfolge der kirchlichen und kommunalen Armenhilfe an und entlastete das Handwerk und die neu erstehende Industrie von der familiären Fürsorge. Erst nachdem die großen sozialen Risiken - Unfall, Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit - von den Betrieben ausgelagert und dem Staat übertragen worden waren, konnte sich eine unternehmerische Ratio, die sich an dem im Wettbewerb erzielten Gewinn orientierte, in der Marktwirtschaft durchsetzen. Der Sozialstaat ist eine Bedingung dafür, dass die moderne Marktwirtschaft funktioniert.
Solange zwischen dem Osten und dem Westen ein Wettbewerb der Systeme herrschte, diente der westdeutsche Sozialstaat der Bundesrepublik als Bestätigung ihrer Überlegenheit und als Beweis dafür, dass sie in der Lage war, Wohlstand mit sozialem Ausgleich zu verbinden.
Mit dem Wegfall der sozialistischen Konkurrenz entfiel scheinbar diese Beweislast. Hinzu kommt, dass die Globalisierung der Wirtschaft die nationale Ordnungspolitik unterhöhlt und Sozialpolitik nur noch als Kostenfaktor erscheint. So taumelt die Welt in eine Konkurrenz um die billigsten Anbieter. In der Logik dieses Wettbewerbs liegt eine Schraubenbewegung nach unten. Es gewinnt, wer am billigsten arbeitet. Und so wundert es nicht, dass Billiglöhne, von denen niemand leben kann, und Kinderarbeit zunehmen. Gefragt sind Löhne wie in Kasachstan und die Kaufkraft von Düsseldorf. Diese Quadratur des Kreises wird aber niemals gelingen.
Hätte ich einen Papagei, ich würde ihn drei Worte lehren: »Kostensenkung, Deregulierung, Privatisierung«. Damit ist das neoliberale Programm ausreichend beschrieben. Es wird also Zeit, sich auf die Ordnung stiftende Funktion des Sozialstaates wieder zu besinnen.
Das tragende Prinzip des Sozialstaates ist die Solidarität, die freilich in einem Spannungsverhältnis zur Freiheit steht. Solidarität stützt einerseits die Freiheit, andererseits begrenzt sie diese.
Solidarität beruht historisch wie systematisch auf zwei Grundformen des sozialen Zusammenhalts:
- auf der familiären Fürsorglichkeit, in der das Zusammenleben nach der Grundregel »Einer für alle und alle für einen« organisiert ist,
- und auf der wechselseitigen Verbundenheit, in der das Prinzip »Wie du mir, so ich dir« Gültigkeit hat.
Die fürsorgliche Solidarität stand am Anfang. Nur mit ihrer Hilfe hat der Mensch überhaupt überlebt. Der Mensch ist das schwächste aller Lebewesen: eine Frühgeburt mit extrem verlängerter Kindheit. Von der Wiege bis zur Bahre ist der Mensch auf andere angewiesen. Die fürsorgliche Solidarität entspricht einer Sozialhilfe, sie ist bedürfnisabhängig.
Die auf Gegenseitigkeit aufgebaute Solidarität hingegen ist eine spätere Form der Unterstützung. Mit ihrer Hilfe sprengte der Mensch die engen Grenzen von Familie und Sippe. Der auf Gegenseitigkeit aufgebaute Tausch ermöglichte Wohlstandsmehrung, die in der engen, sich selbst versorgenden Hauswirtschaft nie erreicht worden wäre.
Das Prinzip »Aug’ um Aug’« bändigte mit dem Grundsatz »Wie du mir, so ich dir« die blinde Rachsucht. Die goldene Regel »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« und Kants kategorischer Imperativ lassen sich als späteres moralisches Echo auf das Gegenseitigkeitsprinzip verstehen, das die Geschichte der Zivilisation durchzieht.

Auch die moderne Sozialpolitik enthält die beiden Grundsätze der Fürsorge und der Gegenseitigkeit. In der angelsächsischen Tradition steht die Armutsbekämpfung im Mittelpunkt. Sie ist staatlich organisiert und steuerlich finanziert. Für die fürsorgliche Solidarität steht der Name William Beveridge, der eine allgemeine, das Existenzminimum sichernde Sozialpolitik in Großbritannien forcierte. Sie steht in der Tradition der familiären Fürsorge.
Die kontinentaleuropäische Sozialpolitik dagegen ist stärker am Prinzip der Gegenseitigkeit ausgerichtet: »Gibst du mir, so geb ich dir.« Sie knüpft deshalb die Ansprüche an Beiträge, die im Voraus geleistet wurden, und folgt damit dem Gedanken einer solidarischen Selbsthilfe, für die nicht der Staat, sondern die Sozialversicherung die bevorzugte Organisationsform ist. Diese sozialpolitische Tradition wird hierzulande mit Otto von Bismarck verknüpft.
Die deutsche Sozialpolitik Bismarckscher Herkunft folgt dem Subsidiaritätsprinzip. Das heißt: Die beitragsbezogene Sozialversicherung hat Vorrang vor der Fürsorge, die nur als letztes Netz bereitsteht. Das System der beitragsbezogenen Sozialversicherung entspricht der Marktwirtschaft viel mehr als die Staatsfürsorge.
Doch allmählich und fast unbemerkt verschieben sich in der aktuellen sozialpolitischen Diskussion in Deutschland die Gewichte von der Sozialversicherung zur Sozialfürsorge. Die populäre Parole lautet: Der Sozialstaat soll sich auf die Bedürftigen konzentrieren. So geraten wir auf die Schiene des Fürsorgestaates.
Bei diesem Paradigmenwechsel wird leider übersehen, dass dies mehr Staat und mehr staatlichen Transfer, weniger Subsidiarität und mehr Bürokratie bedeutet. Allesamt Trends, die der herkömmlichen christlich-demokratischen Programmatik konträr entgegenstehen.
Mit der Abkehr von der Beitragsfinanzierung hin zur Steuerfinanzierung verliert der Sozialstaat seine Steuerungskapazität. Beiträge decken bekanntlich einen eingegrenzten, zweckgebundenen Finanzbedarf. Einnahmen und Ausgaben stehen in direktem Zusammenhang. Wer mehr Leistungen verlangt, muss bereit sein, mehr Beiträge zu zahlen. Die Grenze der Beitragsbelastung ist also die Grenze der Ausgabenerhöhung. Im Beitragssystem ist also eine Bremse gegen die Inflation von Ansprüchen eingebaut.
Das kann man von der Steuerfinanzierung nicht in gleicher Weise sagen. Es gewinnen beim jährlichen Verteilungskampf um das Geld aus dem Staatshaushalt sehr oft jene, die am stärksten Druck ausüben können. Zudem: Nur die beitragsfinanzierte Rente steht unter verfassungsrechtlich geschütztem Eigentumsanspruch, mit dem der Gesetzgeber nicht nach Belieben verfahren kann. Das unterscheidet beispielsweise die Beitragsrente von der steuerfinanzierten.

Wenn Armutsvermeidung zur Hauptaufgabe des Sozialstaates wird, verwandelt sich dieser in eine Bedürfnisprüfungsanstalt, weil er - bevor er Hilfe leistet - ständig fragen muss: »Bist du reich, bist du arm?« Und der Gesetzgeber wird sich zwangsläufig in Kämpfe über die Definition von Armutskriterien verwickeln. Die Sozialversicherung dagegen bleibt von dieser Kalamität verschont. Sozialversicherungsleistungen werden nicht von Bedürftigkeitsprüfern ausgelöst, sondern knüpfen an Vorleistung durch Beiträge an.
Als stärkstes Argument für die Verlagerung von der Beitrags- auf die Steuerfinanzierung wird immer die Abkoppelung der Sozialleistungen von den Arbeitskosten genannt. Doch in Wahrheit werden alle Sozialleistungen zu guter Letzt aus der Arbeit finanziert. Darüber hinaus führt der Systemwechsel zu einer Verschiebung der finanziellen Belastung. Der Unternehmer muss Beiträge an Privatversicherungen entrichten und mehr Steuern zahlen. Auch diese Leistung schlägt sich im Geldbeutel nieder - und wird schließlich als Lohndruck in den nächsten Tarifverhandlungen weitergegeben. Denn das Einkommen der Versicherten wird noch immer vorwiegend aus Arbeitslöhnen gespeist.
Sachgerechter als der Versuch, alle Leistungen der Sozialversicherung von den Arbeitskosten abzukoppeln, ist die Frage, welche Leistungen der Sozialversicherung mittels Beiträgen finanziert werden sollen. Die berufliche Weiterbildung zum Beispiel, die mit Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung finanziert wird, ist eine klassische Fremdleistung. Das Zweitstudium eines Akademikers hingegen bezahlt der Steuerzahler, die Umschulung der Arbeitnehmer diese selbst und der Arbeitgeber.
Der Paradigmenwechsel von der Beitrags- zur Steuerfinanzierung wird einen Mentalitätswandel im Sozialstaat bewirken. Die emanzipativen sozialstaatlichen Elemente werden zurückgedrängt, die obrigkeitsstaatlichen verstärkt. An die Stelle des selbstständig erarbeiteten Anspruchs tritt die wohlfahrtsstaatliche Zuweisung. Der Bittsteller wird zur Leitfigur des Sozialstaates.

Der Maurer, der 40 Arbeitsjahre auf dem Buckel hat und immer treu seine Beiträge zahlte, wird nach Hartz IV schon nach kurzer Arbeitslosigkeit Fürsorgeempfänger und demjenigen gleichgestellt, der nie gearbeitet hat. Außerdem: Derjenige, der ein Leben lang gespart und sich ein Vermögen zurückgelegt hat, steht im Notfall schlechter da als derjenige, der sein Geld verjubelt hat. Denn der Fleißige und Sparsame wird so schnell nicht bedürftig und erhält - weil er etwas auf der hohen Kante hat - deshalb unter Umständen bei Arbeitslosigkeit weniger Unterstützung oder geht sogar leer aus. Das ist ein Anschlag auf Fleiß und Sparsamkeit.
Eine Kopfpauschale in der Krankenversicherung wäre ein weiterer Schlag gegen die subsidiäre Solidarität, weil sie die Sozialversicherung zur Dependance der Staatsfinanzierung macht. Denn den Sozialausgleich bei den Gesundheitskosten soll nach den Plänen der CDU der Steuerzahler finanzieren.

Die Kopfpauschale damit zu begründen, dass Kosten für Kranke nicht vom Einkommen abhängig, also für alle Köpfe gleich hoch sein sollten, lässt auf eine schlampige Denkweise schließen. Die Köpfe sind zwar gleich, aber das Krankheitsrisiko einer jungen Bürogehilfin ist niedriger als das eines alten Stahlarbeiters. In der Logik, Beiträge von den Ausgaben pro Kopf abhängig zu machen, liegt der risikoabhängige Beitrag. Da ist die FDP konsequenter - und zugleich asozialer. Die FDP verwechselt allerdings die risikoabhängige Kfz-Versicherungsprämie mit der Funktion eines solidarischen Beitrags. Offensichtlich ist ihr der Unterschied zwischen Kranken und Kraftfahrzeugen nicht geläufig. Ob jemand ein Auto kauft oder nicht, hängt von seiner Kaufkraft ab. Das ist jedoch bei der Krankheit anders. Krankheit ist keine Kaufentscheidung.
Die große soziale Frage des neuen Jahrhunderts ist: »Wie kann der Sozialstaat unter globalen Bedingungen überleben?« Der Sozialstaat ist eine nationalstaatliche Erfindung. Die Wirtschaft jedoch ist längst global. Das ergibt eine Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit. Das Kapital ist flüchtig. Die Arbeit bleibt sitzen. Die Weltwirtschaft wird auf Kostenwettbewerb konzentriert. Der Billigste gewinnt. Das untergräbt die vorhandenen Sozialstandards oder lässt sie gar nicht erst entstehen. In der Logik dieser Entwicklung liegt die Wiedereinführung der Kinderarbeit.
Der Sozialstaat bedarf eines neuen globalen Regelwerkes. Einen Weltstaat wird und soll es nicht geben. Die soziale Kompetenz globaler Institutionen muss gestärkt werden. Hierfür bieten sich die Internationale Arbeitsorganisation, die Welthandelsorganisation, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds an.

Sozialpolitik ist nicht der Lazarettwagen, der hinter der wirtschaftlichen Entwicklung herfährt und die Fußkranken aufliest. Sozialpolitik hat es auch mit der Ordnung der Gesellschaft zu tun. Diese kommt nicht ohne Prinzipien aus. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind die tragenden Sozialprinzipien. In welchem Verhältnis stehen sie zueinander?
Das Gegenseitigkeitsprinzip entspricht mehr der Leistungsgerechtigkeit, das Fürsorgeprinzip der Barmherzigkeit. Versuche nicht, ein Problem mit Barmherzigkeit zu lösen, wenn Gerechtigkeit gefragt ist. Letztere ist eine Stütze der Selbstachtung. In der gegenwärtigen Sozialpolitik wird alles mit allem vermischt. Schließlich sind beitragsfinanzierte Sozialleistungen für eine internationale Sozialpolitik auch besser geeignet als steuerfinanzierte. Die beitragsbezogene Rente ist über nationale Grenzen hinweg transferierbar. Die steuerfinanzierten Sozialhilfeansprüche sind das nicht.
Es ist - auch sozialpolitisch - Zeit, über den nationalen Bretterzaun zu blicken. Denn: Globale Mindeststandards schaffen die Basis für einen fairen Welthandel. So viel kann der nationale Sozialstaat gar nicht an Hilfe erzeugen, wie eine entfesselte Weltwirtschaft heute an Hilfsbedürftigkeit schafft.
Eine globale soziale Politik kommt nicht ohne Ordnung stiftende Prinzipien aus. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit haben schon in der Frühzeit der Menschheit gegolten. Sie werden auch noch in hunderttausend Jahren gelten.

Norbert Blüm war von 1982 bis 1998
Arbeits- und Sozialminister der Regierung Kohl. Der frühere CDU-Politiker lebt heute als freier Autor in Bonn

DIE ZEIT Nr. 14 vom 31. März 2005